Universitäten sind komplexe Systeme, die sich vor, während und nach dem Start der „Bologna-Reform“ 1999 permanent wandeln – insbesondere in ihrer Leitungs- und Governancestruktur. Eine ganze Reihe von Punkten, die letztlich überhaupt nichts mit Bologna zu tun haben, haben sich in Universitäten gerade erst in den letzten Jahren massiv verändert: Akkreditierung und Evaluierungen, Studiengebühren, Bürokratisierung, Abschaffen von Diplom-Studiengängen, Reorganisation der Hochschulen, Verwischen der Grenzen zwischen Universität und Fachhochschule, europaweite Normierung und Standardisierung, Ent-Institutionalisierung der „ordentlichen Universitätsprofessoren“, Verhinderung einer berufsqualifizierenden Vorbereitung der Studierenden sowie ganz allgemein die Bedrohung von universitärer Bildung. Gegenwärtig sind die wenigsten Betroffenen mit den eingetretenen Entwicklungen zufrieden.
Betrachtet man den – nicht erst seit dem Bologna-Prozess beschrittenen – Entwicklungspfad des Gefüges aus Universitätsleitung und Geleiteten aus einer organisationsanalytischen Sicht, so lassen sich vier Entwicklungshypothesen zur Vergangenheit formulieren (vgl. Scholz/Stein 2010) und eine fünfte, innovative Entwicklungshypothese ableiten:
Die erste Entwicklungshypothese unterstellt zu Beginn der nachzuverfolgenden universitären Entwicklung die Steuerungsstruktur der „fakultären Silos“. Dieser sieht das Primat des Handelns bei den Fakultäten (Fachbereichen): Hier organisieren die Universitätsprofessoren Lehr- sowie Forschungsbetrieb und positionieren sie sowohl im Gefüge der Universität als auch im Wettbewerb um Studierende. Diesem Bild liegt ein föderalistisches Grundverständnis der Universität zugrunde, bei dem wenig Wert auf die Verzahnung der einzelnen Fakultäten untereinander gelegt wird. Die Fakultäten werden von der Verwaltung als Serviceebene unterstützt. Dem ausschließlich von den Fakultäten gewählten Präsidenten kommt die Rolle eines Moderators zu, der die Universität im Sinne einer Selbstverwaltung nach außen repräsentiert und als Schlichter in Streitfällen agiert. Formuliert in der Prinzipal-Agenten-Theorie (vgl. Jensen/Meckling 1976; Jost 2001) agieren im fakultären Föderalismus die Fakultäten als Prinzipale: Sie legen fest, welchen strategischen Grundrichtungen sie folgen wollen. Dem Präsidenten kommt in diesem Bild die Rolle des Agenten zu, da er durch die Dekane der Fakultäten gewählt wird. Diesem Bild folgten deutschen Universitäten über hunderten Jahren hinweg, waren national und international erfolgreich, entwickelten sich aber teilweise dysfunktional weiter.
Die zweite Entwicklungshypothese postuliert die Existenz einer Steuerungsstruktur, die als „professoraler Kindergarten“ bezeichnet werden könnte. Sie reflektiert, dass eine föderalistische Struktur durch Einzelne eigennutzorientiert und im ökonomischen Sinne „opportunistisch“ zu ihren Gunsten ausgenutzt werden kann. In der Tat haben sich einzelne Professoren in Form von Trittbrettfahrertum und Ausnutzen ihrer faktischen Unkündbarkeit optimiert. Diese agenturtheoretischen Probleme lassen sich durch verschiedene Aktivitäten lösen, unter anderem auch durch solche, die ausschließlich auf der Professorenebene selbst stattfinden. Dieses zweite Bild wurde aber letztlich als Rechtfertigung für eine Gegenbewegung seitens der Universitätspräsidenten ins Feld geführt.
Die dritte Entwicklungshypothese geht von der Governancestruktur des „präsidialen Feudalismus“ als Gegenmodell aus. Es basiert auf einer zentralen Rolle des Präsidenten (Rektors), der den überwiegenden Teil der Verfügungsrechte des Ministeriums, der Fakultäten und der Lehrstühle übernimmt. Diese Struktur findet sich mit marginaler Varianz in den aktuellen Universitäts- beziehungsweise Hochschulgesetzen und sichert dem Präsidenten unverdünnte „Property Rights“ (Demsetz 1967) an den universitären Ressourcen. Dies führt zwangsläufig zu einem Modell zentraler Planwirtschaft mit feudalistischer Prügung: Hier liegt in der Hand eines einzigen Akteurs, der direkt oder indirekt über seine Governancestruktur über „strategische“ Forschungsrichtungen, über Berufungslisten (als Kommissionsvorsitzender auch gegen das mehrheitliche Votum der Professoren), über aufzunehmende/abzuschaffende Fächer und über sämtliche Personalfragen von der Besoldung bis hin zur Ernennung von Dekanen entscheidet beziehungsweise zumindest entscheiden kann. Auch die externen Beziehungen der Universität werden primär durch den Präsidenten gestaltet. Agenturtheoretisch ist der Präsident der Prinzipal, alle übrigen Einheiten werden zu seinen Agenten, deren verborgenen Charakteristika, Handlungen und Absichten er aber nicht kennt. Deshalb sucht er Sicherheit in Evaluationen, Akkreditierungen, zentrale Mittelzuweisungen und Kommissionsbesetzungen. Im präsidialen Feudalismus kann die Universitätsleitung ihre Macht durch interne Governancestrukturen bis hin zu vielen individuellen Zielvereinbarungen voll ausspielen – wobei sie durchaus vom impliziten Coaching ihrer Standesorganisation (der Hochschulrektorenkonferenz) profitiert. Professoren und Amtsträger in den Fakultäten sind in diesem Spiel weit gehend chancenlos.
Die vierte Entwicklungshypothese besagt: Dem präsidialen Feudalismus folgt zwangsläufig der „individuelle Verhandlungsdschungel“ nach. Das vierte Modell der Universität ist eine Reaktion der Betroffenen (und zwar flächendeckend, nicht mehr wie in Stufe 2 einzelner Betroffener) und damit keine durch Universitätsgesetze erzwungene Struktur. Durch Erfahrungslernen, explizites Coaching (wie Kurse in „Wie führe ich Zielvereinbarungs- oder Berufungsverhandlungen?“) und veränderte Wertesysteme beginnen die anderen Akteure, sich ihrerseits anzupassen. Deshalb unterstellt die vierte Entwicklungshypothese lernfähige, rechtskundige und verfahrenssichere Professoren, die opportunistisch im Durchsetzen ihrer Individualinteressen ihre Chance sehen, sich gegenüber ihrem „Feudalherrn“ durchsetzen können. Der Berufsprofessor ist nicht mehr primär Wissenschaftler und Hochschullehrer, wohl aber primär Unternehmer in eigener Sache, der sein „eigenes“ Mikrosystem auf Marktchancen hin ausrichtet. Weitgehend frei von emotionaler Bindung zum Fachgebiet, zur Fakultät und zur Universität optimiert er sich selber. Plötzlich hat der Präsident nicht mehr hunderte Professoren als abhängige und völlig steuerbare Untergebene, sondern hunderte sich immer mehr emanzipierende Verhandlungspartner: Als Resultat dieser quantitativ und qualitativ vielfältigen Verhandlungen entsteht ein individuumszentrierter Verhandlungsdschungel. Von der exponentiell steigenden Komplexität der Zentralsteuerung überlastet, werden Präsidenten zunehmend zu Opfern ihrer eigenen Machtfülle, reagieren anfänglich reflexartig auf jedes neue Problem mit neuen Zentraleinheiten, könnten aber durchaus mittelfristig an diesem Zusammenspiel aus Darwinismus und Opportunismus scheitern. Agenturtheoretisch treten bei diesem „Rüstungswettlauf um Informationsasymmetrie“ zudem nur mehr diejenigen Professoren in das universitäre System ein, die es sich zutrauen, ihren eigenen Vorteil durchzusetzen. Gleichzeitig verdoppeln sich die Rollen von Prinzipal und Agent. Im Ergebnis muss der präsidiale durch immer mehr Zentralsteuerung und Zentralbürokratie seine „Untergebenen“ in den Griff zu bekommen, scheitern: Die Verhandlungspartner fungieren als Varietätsgenerator und schaffen eine Komplexität, die von einem einzelnen Präsidenten und seinem Stab nicht mehr bewältigbar ist. Sein Scheitern wird fatalerweise auch zum Scheitern „seines Systems“ – der Universität – führen.
Vor dem Hintergrund der vier unterstellten Entwicklungshypothesen lautet die Kernfrage zur fünften Entwicklungshypothese nun: Wie ist eine Governance-Alternative zum präsidialen Feudalismus zu gestalten, in der die Geführten weder in einen individuellen Partikularismus verfallen noch sich in die Strukturen der Vor-Bologna-Zeit zurückbewegen?
Anstatt Macht- und Entscheidungsbefugnisse immer stärker zu konzentrieren und damit feudalistisch durchgeführten und gesteuerten Etatismus zu forcieren, bietet sich eine konzeptionelle Basis für eine alternative Steuerungslogik an: der Markt. Markt würde bedeuten, dass sich die besseren Inhalte und Konzepte durchsetzen – was durch zentrale Steuerung zurzeit verhindert wird, da „von oben“ festgelegt wird, was gut ist und was nicht. Markt würde auch bedeuten, dass es wirkliche Mitsprache aller Beteiligten gibt.
Eine solche alternative Struktur könnte man als universitären Korporatismus bezeichnen, als „wissenschaftsgeleitete korporative Leitungsstruktur“ (Markschies2009, 80). Korporatismus bezieht sich allgemein auf die als Korporation bekannte Organisationsform: In ihr besteht eine nicht generell freigegebene, aber dennoch freiwillige Mitgliedschaft, die sich an der funktionalen Spezialisierung auf Sachthemen ausrichtet. Der Korporatismus als dezentrales und damit bottom-up-strukturiertes System sorgt dann dafür, dass sich das korporative Gesamtgebilde insgesamt für die Wahrnehmung der gemeinsamen Mitgliederinteressen einsetzen kann, indem es in Verhandlungen mit anderen Interessengruppen eintritt. Das Forschungsproblem besteht darin, dass diese Alternative zu zentralistischen Steuerungsvarianten noch nicht hinreichend konkretisiert ist.
Konkretisiertes Ziel des Forschungsvorhabens KORFU ist es daher, diese alternative Struktur des universitären Korporatismus als ökonomisches Gestaltungsprinzip für Universitäten mit ihren Komponenten in ihrer Entwicklung und in ihrer Ausgestaltung zu beschreiben und dann im Sinne von handlungsleitenden Hinweisen zu bestimmen, wie die Anreize für die Akteure gestaltet werden müssen, damit dieser universitäre Korporatismus funktioniert.
Warum sind die gegenwärtigen Steuerungsstrukturen eingetreten, welche Gefahren bringen sie für das universitäre System mit sich und wie könnten sie sich verändern lassen? Eine Chance liegt im „Korporatismus als ökonomisches Gestaltungsprinzip für Universitäten“ – einem dezentralen und wissenschaftsgeleiteten Steuerungsmechanismus, in dem die Universität nicht zentralistisch geführt wird und in dem die Geführten weder in einen individuellen Partikularismus verfallen noch sich in die Strukturen der Vor-Bologna-Zeit zurückbewegen. Diese Alternative zu zentralistischen Steuerungsvarianten ist allerdings noch nicht hinreichend konkretisiert.
Das Ziel des Forschungsvorhabens KORFU besteht also in der Beantwortung der Frage: Wie lässt sich dieser neue Entwurf zur zukünftigen Gestaltung von Universitäten realisieren, der dem Ziel entspricht, bei wachsendem internationalen Wettbewerb in Forschung und Lehre die Zukunftsfähigkeit deutscher Universitäten zu erhalten?
Methodisch werden unterschiedliche Verfahren der qualitativen und quantitativen Organisationsforschung eingesetzt, die sich auf die Analyse psychologischer Verträge, empirische Befragungen im nationalen und internationalen Kontext bis hin zu Systemsimulationen erstrecken. Dies geschieht mit Rückgriff auf institutionenökonomische sowie verhaltensorientierte Organisationstheorien. Die unmittelbare Verwertung der Forschungsergebnisse wird im universitären Umfeld erfolgen und adressiert vor allem die Bildungspolitik, das Hochschulmanagement und alle an dem Gelingen von „Universität“ unmittelbar Beteiligte.
[Genaue Quellenangaben auf Anfrage]