Herausforderung

In deutschen Universitäten werden Verschlechterungen spürbar: für die Studierenden, für die Fakultäten und Fachbereiche, für die einzelnen Hochschullehrer. Es mehren sich die Skeptiker und die Desillusionierten. Und dabei ist das Problem noch nicht einmal vollständig in der Wirtschaft angekommen, die immer noch auf der Lohnkosten senkenden Welle „Bachelor welcome“ schwimmt – aber langsam doch erkennt, dass sie dabei ist, gemeinsam mit dem Wissensstandort Deutschland unterzugehen.

Die Entwicklungen im Hochschulsystem eskalieren:

  • Auf Studierendenebene rumort es, wenn kleinere Kurse versprochen werden, man sich aber in überlaufenen Massenveranstaltungen wiederfindet. Es rumort, wenn neue Studienstrukturen so konzipiert werden, als sei man in der Grundschule. Es rumort, wenn Stundenpläne sich aufgrund ihrer Komplexität nicht einmal näherungsweise realisieren lassen. Es rumort, wenn man Abstriche bei der Ausbildungsqualität zu spüren glaubt. Wenn dann noch Studiengebühren verlangt werden, kommt es zu Unverständnis und zunehmendem Widerstand.
  • Auf Fachbereichsebene schwemmen eine Veränderungswelle nach der anderen etablierte Strukturen weg. Attraktive Studienangebote mit immenser Nachfrage müssen eingestellt werden, weil sie in neuen Prüfungsordnungen nicht mehr gewählt werden können. Bewährte Lehrinhalte wie Fallstudien unterliegen plötzlich Genehmigungsvorbehalten von Ausschüssen. Es steigt exponentiell die Lehrstuhlbelastung: nicht nur durch unzählige Arbeitssitzungen zur Einführung neuer Strukturen, sondern auch durch das Zusammentragen vorhandener und neu zu erstellender Dokumente für Akkreditierungen. Hinzu kommt das erzwungene doppelte Abhalten identischer Vorlesungen für alte und neue Studiengänge.
  • Auf der Leitungsebene der Hochschule kämpft man sich durch das Dickicht von Evaluationen sowie Akkreditierungen und lässt sich von völlig neuen Zusatzaufgaben sowohl Zeit als auch Geld rauben. Darüber hinaus entsteht ein Wildwuchs an neuen Institutionen, die sich „Bologna-Büro“ oder „Bologna-Referat“ nennen und den administrativen Apparat der Universität weiter aufblähen.
  • Auf Verbandsebenen werden verzweifelte Kämpfe darum geführt, die eklatantesten Schäden der Hochschulreformen noch abzuwenden – wovon nicht nur Juristentage und Medizinerverbände ein trauriges Lied singen können.
  • Auf Unternehmensebene trifft sich der War for Talents auf dem Arbeitsmarkt mit der emergenten Dequalifikation im Bildungssystem – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Unternehmen merken, dass sie es sein werden, die diese Problematik zu lösen haben.
  • Auf Politikebene kann es geschehen, dass die Bildungsdebatte im Wahlkampf unter die Räder kommt: Sobald sich eine Partei offensiv des Bologna-Experiments annimmt, kann sich das Hochschulsystem schnell zu einem problematischen Schlachtfeld ideologisch geprägter Nivellierungskonzepte entwickeln.
  • Auf Medienebene beteiligen sich immer mehr Akteure an der Debatte – vom Spiegel über die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Zeitung bis hin zu Report Mainz, um nur einige zu nennen. Es zeichnet sich langsam die Erkenntnis ab, dass das Problem der Bologna-Reform und ihres Scheiterns gerade erst seinen Anfang nimmt. Es ist ähnlich wie bei der Finanzmarktkrise: Jahrelang werden Warnungen ignoriert oder verlacht, bis die Probleme so übermächtig sind, dass sie weder kurzfristig noch kostengünstig lösbar sind.

Weiß jeder wirklich, was die Ziele des Bologna-Prozesses sind und wer sich wann dabei wirklich wozu verpflichtet hat? Sicherlich nicht! Verlangt Bologna wirklich die Abschaffung der Diplomstudiengänge? Definitiv nicht! Das haben sich in Deutschland die für die Wissenschaft zuständigen Fachminister ausgedacht. Wurde über die Logik der Zerstückelung der bestehenden Studiengänge informiert? Sicherlich nicht! Was bedeuten „unmittelbare Berufsqualifizierung“ und „erleichterter Quereinstieg in Beruf und Master-Stufe“ im Klartext? Qualifiziert jedes Studium für jeden Beruf und jeden Master? Wird alles auf diese Weise „allgemein“? Oder ist es andersherum?

Bemerkenswerterweise ist selbst konstruktive Kritik am Bologna-Prozess häufig negativ konnotiert und führt zu offenen Drohungen („denken Sie an Ihre Forschungsmittel“) und zu offener Polemik („… kettet sich an die Gleise der Vergangenheit“). Reflexartig wird jedem, der sich nicht blind in den Bologna-Prozess einreiht, sofort geringe Dienstleistungsbereitschaft und fehlende Kundenorientierung unterstellt.

Das Gegenteil ist der Fall: Gerade wenn man kunden-, sprich: studierendenorientiert ist, muss man sich gegen das verwehren, was mit den Studierenden passiert. Denn es ist nicht kundenorientiert, das Ausbildungsniveau für Studierende so weit abzusenken, dass deren internationale Wettbewerbsfähigkeit verspielt wird. Es ist nicht kundenorientiert, wenn über Jahre hinweg optimierte Kurse „bachelor-tauglich“ gemacht beziehungsweise eliminiert werden. Es ist nicht kundenorientiert, wenn man, statt über die langfristige Employability der Studierenden nachzudenken, lieber jede Vorgabe umsetzt, die von oben kommt. Es ist nicht kundenorientiert, wenn man Studiengebühren und Parkgebühren sowie viele andere Gebühren einführt, deren Einnahmen letztlich nur dazu dienen, die schlimmsten Folgen des Bologna-Prozesses abzumildern.

Wenn 2009 die ersten zehn Jahre „Bologna“ vorbei sind, wird eine Zwischenbilanz gezogen und darüber nachgedacht, wie der weitere Weg in die universitäre Zukunft aussehen soll. Der neue Weg muss sicherlich anders aussehen als das, was seit 1999 in deutschen Universitäten stattgefunden hat. Mit einer einfachen inkrementellen Anpassung ist es dabei nicht getan: Dafür hat uns der aktuell laufende Bologna-Prozess zu weit vom richtigen Kurs weggeführt. Die Herausforderung lautet: Wie kann man auf Basis des mittlerweile entstandenen Regelungsrahmens kreative Lösungen finden, die einen Rest universitärer Ausbildungsqualität retten?